Anscheinsbeweise für typische Unfallsituationen
Für typische Unfallsituationen wurden Anscheinsbeweise entwickelt, die dem Anspruchsteller den Beweis der Ursächlichkeit für den Unfall erleichtern. Der Unfallgegner kann dann einen atypschen Verlauf darlegen, muß ihn aber beweisen:
Trunkenheit: Bei über 1,1 Promille im Blut spricht der Anschein der Fahrunsicherheit für die Unfallverursachung, wenn einem Nüchternen keine Schwierigkeiten in dieser Situation hätte oder der Unfallhergang unaufklärbar war. Der Anschein wird widerlegt, wenn andere Ursachen den Unfall verursacht haben (Glatteis) oder ein Idealfahrer den Unfall nicht hätte verhindern können.
OLG Saarbrücken verleitet Kfz-Versicherungen mit seinem Urteil vom 04.04.2013 - 4 U 21/12 - dazu, den Geschädigten zunächst zur Abrechnung gegenüber der eigenen Vollkaskoversicherung zu bewegen, wenn er eine hat. Das gilt auch nicht, wenn der Schuldner/Schädiger schuldunfähig war, was der Arzt bei der Entnahme der Blutprobe festgehalten haben könnte. Trotzdem muß die Schädiger-Versicherung den Schadensersatz über den Freibetrag von 5.000,00 € und die vollen Rechtsanwaltskosten tragen. Das resultiert aus § 117 III 2 VVG (Verweisung an den Kaskoversicherer).
Vorfahrtsverletzung: Beim Einbiegen spricht dessen Verletzung für die Verursachung. außer der Berechtigte konnte auch nicht bei größter Sorgfalt gesehen werden oder er war nicht im Sichtfeld.
Notbremsung aus hoher Geschwindigkeit
Bei einer Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um 70 km/h ist dies die Betriebsgefahr erhöhend zu berücksichtigen (OLG München, Endurteil vom 01.06.2022 - 10 U 7382/21), denn die verringerte Reaktionszeit hat sich auf den Unfallablauf ausgewirkt.
Auffahren auf das Fahrzeug des Vorausfahrenden, weil Fahrer unaufmerksam war oder den Sicherheitsabstand nicht einhielt.
Abkommen von der Fahrbahn und Begegnungszusammenstoß, auch auf nasser Fahrbahn oder bei vorhersehbarer Glätte, nicht bei Lenkungsschaden, Luftverlust im Reifen oder, wenn der Abkommenden trotz Gegenverkehr zuvor überholt wurde.
Linksabbieger, der mit einem ordnungsgemäß Überholenden kollidiert, außer, wenn er nicht blinkte. Ebenso nicht, sofern der Entgegenkommenden ohne Licht oder wesentlich zu schnell fuhr.
Einbiegen aus untergeordneter Straße: Ereignet sich die Kollision in einem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang nach dem Einbiegen aus einer untergeordneten Straße auf die bevorrechtigte Straße, spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen den Einbiegenden, die Vorfahrt mißachtenden Verkehrsteilnehmers. Dieser ist nur mit einem atypischen Geschehensablauf zu widerlegen, mit einem empirisch nicht zu vernachlässigenden, nicht erst mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit, für möglich erscheinen lassen.
Der die Vorfahrt zu gewährende darf nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass der Vorfahrtsberechtigte weder gefährdet noch behindert wird (§ 8 II 2 StVO). Er muß sich in die Fahrbahn/Kreuzung hineintasten, dass heißt zentimeterweise vorrollen und abstoppen (KG Berlin, B vom 28.01.2010, 12 U 40/09; LG Lübeck, Urteil vom 08.06.2021, 10 O 389/21 nicht rechtskräftig).
Verlassen der Parkbucht rückwärts: Ob der auf dem Supermarktparkplatz rückwärts aus der Parkbucht fahrende Pkw beim Zusammenprall stand, kann mangels Zeugen nur an den Anstoßstellen beider Fahrzeuge vom Sachverständigen festgestellt werden. In unserem Fall wies der herausfahrende Mazda im Kantenbereich hinten schräge und fast horizontal verlaufende Kratzspuren auf, während bei dem von hinten angeblich auffahrenden Fiat mehrere Spuren parallel von oben nach unten (oder von unten nach oben) verliefen. Der Anstoßwinkel wäre wichtig, konnte jedoch nicht mehr ermittelt werden. Der DEKRA Gutachter meinte, dass diese Spurenlage eher darauf hinwies, dass der Fiat stand, als der Mazda auffuhr.
Das Amtsgericht Hamburg-Altona wies am 14.05.2022 (315 b C 4/22) die Schadensersatzklage zurück, denn beim Rückwärtsfahren muß die Behinderung des fließenden Verkehrs nach den §§ 9 Absatz 5 und 10 STVO ausgeschlossen sein. Nach dem Anscheinsbeweis erhält der Ausparkende die Alleinschuld.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht Landgericht Hamburg (331 S 30/22) am 17.02.2023 meinte der zuständige Richter, dass der Anscheinsbeweis nur widerlegt werden könne, wenn der ausparkende Wagen 5 - 6 Sekunden gestanden hätte, dessen Motor unbeabsichtigt ausgegangen wäre oder das Auto bereits einen längeren Weg nach vorne zurück gelegt hätte. Dies hätte durch Zeugen bewiesen werden müssen, dafür reicht der Beifahrer meistens nicht aus. Sonst hätte der Ausparkende jederzeit das Fahrmanöver unterbrechen und nach vorne fahren müssen. Er hätte sich von einer dritten Person auch einweisen lassen können.
Ein Sachverständigengutachten, das der rückwärts fahrende Pkw gestanden hätte, reicht nicht aus. Der Sachverständige kann nur das Halten feststellen, aber nicht, wie lange der Wagen gehalten hat.
Rechts vor links gilt auf Parkplätzen nur, wenn die dortigen Fahrspuren keinen eindeutigen Straßencharakter haben, Im BGH Urteil vom 22.11.2022 - VI ZR 344/21 - waren auf einem Baumarkt Parkplatz waren die Fahrspuren nicht durch Pflasterung von den Parkbuchten unterscheidbar und eine Beschilderung existierte nicht. Rechts vor links gilt nur für den fließenden Verkehr und dient der Sicherheit des Straßenverkehrs, somit der Zu- und Abfahrt, nicht der Aufteilung und unmittelbaren Entschließung der Parkflächen. Selbst beim Ausparken und Sehen auf der Fahrbahn (10 I StVO) gibt dem Kfz kein Vorrecht. Im Parkhaus muß jeder Verkehrsteilnehmer damit rechnen, dass ein Ausparkender seinen Verkehrsraum stört (BGH; Urteil vom 17.1.2023, VI ZR 203/22).
Leasinggeberin hat keinen Anspruch gegen den Halter auf Übernahme der Leasingraten, wenn dem Fahrer kein Pflichtverstoß nachgewiesen wird (BGH,Urteil vom 18.04.2023, VI ZR 345/21).
Einseitiges Schuldanerkenntnis nach Unfall:
Nach der BGH-Rechtsprechung verbessert ein derartiges Anerkenntnis die Beweislage des Erklärungsempfängers, weil er von den weiteren Aufklärungsmaßnahmen absieht. Er ist seinen Beweisanforderungen enthoben, wenn nicht dem Erkärenden der Nachweis der Unrichtigkeit des Anerkannten gelingt (BGH, Urteil vom 10.01.1984, VI ZR 64/82).
In unserem Fall konnten Zeugenaussagen und der Sachverständige die Unfallursache, auffahren des hinteren oder zurückrollen des vorderen Pkw) nicht klären. Die Klägerin schickte eine whats-up mit folgendem Wortlauf "Schreib mir, was du bekommst bzw. was ich machen soll. Tut mir so leid und mir ist das unangenehm." Es kommt nach Ansicht des AG Oldenburg auf den tatsächlichen Willen und nicht auf den konkreten Wortlaut an. Der Inhalt der Nachricht läßt erkennen, dass die Klägerin die Verantwortung für den Unfall übernehmen wollte. Ihre Einlassung, sie wollte Unfrieden damit vermeiden und den Konflikt beenden, glaubte das Gericht nicht, so dass es die Schadensersatzklage abwies (Urteil vom 28.11.2019, 25 C 14/18).